[17] Steckkontakt, Ausgabe Feb. 1997

 

Gott zanken oder Gott danken?

 

Neujahrstag 1997, ich nütze ihn zu einem Besuch bei Tone. Ruhig und tief verschneit liegt der Friedhof vor mir, als ich meinen Schritt zu Tones Grab lenke. Über seiner Ruhestätte liegt der Schnee so hoch, dass sein Name nicht mehr sichtbar ist. Ich befreie den Grabstein und die Laterne von der Schneehaube und zünde eine Kerze an. Versonnen beobachte ich, wie sich die Flamme entwickelt und das Gehäuse der Laterne so erwärmt, dass sich die Schneereste als leichte Dampfwolke verflüchtigen. Meine Gedanken sind bei ihm, bei diesem Pater Anton Müller, den viele von uns liebevoll Tone nennen durften. An eine Zeit, als er noch bei uns weilte, aber auch an die Umstände, wie er uns verließ, nein, verlassen musste. Und ich fühle Trauer, auch nach einem Jahr noch tiefe Wehmut, dass er nicht mehr unter uns weilt.

 

Wie schon so oft zuvor wallt in mir Zorn hoch, auf diesen hartherzigen Orden, der uns Tone raubte, ihn, einen betagten Mann, aus seinem Wirkungskreis riss und ihn in die Fremde verbannte. Ihn von unserer Klosterkirche abberief, wo er sein Lebenswerk, die Gemeinde Endresstraße, schuf. Jene Mitbrüder, die Gottes Barmherzigkeit predigen und doch so hartherzig an ihrem Mitbruder handelten.

 

Und ich zanke auch Gott, der uns Tone so bald darauf genommen hat. Erst geraubt und dann genommen - doch dieses Mal endgültig, unwiederbringlich. Ich erinnere mich an den tiefen Schmerz, den ich empfand, als mich die Nachricht von Tones Ableben erreichte. Zorn, Zank und vor allem Schmerz, der so übermächtig war und mich unfähig machte, meine Empfindungen zu artikulieren.

 

Eindringlich sind mir die Erinnerungen an Tones Begräbnis zugegen. An jenen kalten Wintertag, an dem ihm so viele auf seinem letzten Weg begleiteten. An die Aufbahrungsfeier mit der Handvoll größtenteils überalterten Patres, welche die personellen Probleme des Ordens erkennen ließen. Die eindringlichen Worte des greisen Jesuitenpaters, der am offenen Grab noch ein letztes Mal das Wirken Tones würdigte und dann der letzte Blick auf den Sarg, wobei kaum ein Auge selbst der harten Männer trocken blieb.

 

Ich denke auch an die anschließende Heilige Messe, zelebriert von den Patres mit wesentlichen Gestaltungselementen aus unserer Gemeine - vorwiegend durch unsere starken Frauen, die den Festakt der Trauer mit bewundernswerter Fassung durchstanden. Die persönlichen Fürbitten und Danksagungen waren mir ein erster Trost, weil so viele eigene Erinnerungen an diesen großen Menschen zunehmend die Trauer in den Hintergrund drängten.

 

Schließlich erinnere ich mich an die Abendmesse vor einigen Wochen, an der wir des ersten Jahrestages von Tones Tod gedachten. Gestaltet von der Bibelrunde, erhielten die Erinnerungen an Tone neuen Auftrieb. Ich sehe Brigitte S. vor mir, wie sie uns ihr Bild von Tone vermittelte, wie sie ihre Gedanken langsam und feierlich vortrug, ihre Worte durch ihr Mienenspiel so berührend ergänzend, und damit die noch immer vorhandene Verletztheit ihres Inneren so eindrucksvoll dokumentierte.

 

Aber ich sehe auch Tone, wie er uns seinen unerschütterlichen Glauben an Gott predigte. Seine Liebe zu Jesus Christus, dessen Wirken er so meisterhaft zu interpretieren verstand. Wie er versuchte, die Lehren der Bibel in die heutige Zeit umzusetzen. Und dass in unserem Glauben der Tod nichts Endgültiges sei. Sein Beschwören, dass Gott die Menschen liebt, und   ”Ich bin bereit," soll er gesagt haben, als er die Sterbesakramente erhielt. Ich bin sicher, er war alle Zeit bereit, diesem Jesus Christus zu folgen.

 

Beschämt blicke ich in das Licht der Kerze. Wenn uns sein Andenken noch immer so traurig macht, wie gewaltig groß muss dann erst die Liebe gewesen sein, die diesem wunderbaren Menschen entgegengebracht wurde. Ich erkenne, dass Gott nicht Zank, sondern Dank auch dafür gebührt, dass wir ein kleines Stück des Weges mit Tone gehen durften. Dank auch für die Erinnerungen an diese gemeinsame Zeit und an sein Vermächtnis: seine, nein, unsere Gemeinde. Betrübt stelle ich fest, wie viele Gelegenheiten ich ausgelassen habe, um mit Tone zusammen zu sein, ein Versäumnis, das sich nicht wieder nachholen lässt.

 

In Gedanken verabschiede ich mich von Tone. Gefasst und mit innerer Ruhe verlasse ich sein Grab und durchstreife noch eine Zeit lang den menschenleeren Friedhof. Am Heimweg fahre ich an der Klosterkirche vorbei, an unserer Gemeinde. Und ich beginne schon wieder zu grübeln. Ist das noch die Gemeinde, an die Tone so sehr glaubte, oder haben wir seinen Weg längst verlassen? Doch das ist eine andere Geschichte.

Fritz Straka

 

<-- Zum Beginn dieser Seite

--> Zur Übersicht des Archives